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Statt der Arbeit
Von wegen Fabrikvorstadt: Agrarlandschaft, Dienstleistungszentrum,
Kulturmetropole - seit 150 Jahren erfindet sich Essen ständig neu. Eins
blieb gleich: Die Stadt wuchs mit den Träumen der Zugezogenen.
Text sells, 1/2005
Essens Image konnte nur besser werden. 1924 charakterisierte der große
Reporter Egon Erwin Kisch die Ruhrmetropole besonders böse, schenkte
Essen kein einziges Wort und sagte doch alles über die Stadt: „Kaum
eine Schnellzugstunde ist’s nach dem wunderschönen, leuchtenden
Düsseldorf, wo Heine dichtete, Richard Wagner komponierte und Achenbach
malte.“ So schimpft heute niemand mehr. Im Gegenteil: Heute sagen
Essener sogar im Ausland nicht mehr verschämt „It’s near Cologne“.
Stattdessen zählen sie Superlative auf. Essen? Das könnte 2010 Europas
Kulturhauptstadt sein. Da steht seit 1928 Deutschlands größtes Kino. Da
gehört eine im Bauhausstil gebaute Zeche zum Weltkulturerbe. Da
gründeten 1993 Wirtschaftsverbände die größte private Hochschule in
Deutschland. Da sitzen neun der hundert größten deutschen Unternehmen.
Doch wer all das hört, denkt wohl wie Kisch: Essen hält vielleicht
diesen und jenen Rekord, aber es hat kein Flair, keine Seele.
„Fabrikvorstadt“, sagte Kisch nur. Das hat zwar nie gestimmt, doch das
Vorurteil hält sich. Denn Superlative erzählen nichts von der Seele
Essens. Wer die entdecken will, muss Straßenbahn fahren.
Das hat ein großer Schriftsteller 1926 gemacht. Joseph Roth kam nach
Essen, fuhr mit der Tram und staunte: „Die Stadt hört nicht auf. Wenn
sie aber einmal aufhört, beginnt sofort die andere.“ Essen ist
explodiert, von 5000 Einwohnern 1820 auf mehr als eine halbe Million
1926 bei Roths Besuch. Wer heute auf seinen Spuren Essen entdecken
will, fährt mit der Straßenbahn 107. Auf den 17 Kilometern zwischen
Essen Bredeney und Gelsenkirchen Hauptbahnhof erlebt man in 46 Minuten
eine größere Vielfalt als an einem ganzen Nachmittag in Berlin-Mitte.
Die Bahn fährt durch Villenviertel, Dienstleistungszentren,
Industriebrachen, Kulturmetropolen, Arbeitersiedlungen, Szeneviertel -
alles eine Stadt, alles Essen.
Die 107 startet im Essener Süden, auf den Ruhrhöhen im noblen Stadtteil
Bredeney. Hier genoss schon Alfred Krupp den Blick auf den Baldeneysee.
1873 bezog er seine Villa Hügel, im Grundbuch der Stadt Essen
bescheiden als „Einfamilienhaus“ bezeichnet. Tatsächlich sind die 269
Räume und 28 Hektar Park drumherum ein gewaltiges Symbol der
Industrialisierung in Deutschland. Drei Krupp-Generationen lebten dort,
heute bringt die 107 vor allem Touristen in die Nähe des Anwesens.
Irgendwo in Bredeney (1915 in Essen eingemeindet) wohnen auch die
beiden reichsten deutschen Unternehmer der Gegenwart: Karl Albrecht,
Eigentümer von Aldi Nord und sein Bruder Theo Albrecht, Eigentümer von
Aldi Süd.
Von den Superreichen merkt man an der Haltestelle Bredeney wenig.
Gewiss, sieben Boutiquen mit Damenbekleidung entlang der
Einkaufsstraße, findet man nicht in jedem Stadtteil. Doch viel
auffälliger ist das viele Grün. Am Wochenende marschieren auf dem nahen
Wald Menschen in Wanderschuhen zur Straßenbahn, den Rucksack auf den
Schultern. Sie kommen vom Ruhrtal hoch. Dort unten liegt der
Baldeneysee, wo jedes Jahr die größte deutsche Binnenseeregatta, die
Essener Woche ausgetragen wird. Dort unten liegt auch der Stadtteil
Werden, dessen steile Gassen nicht nur nach Bergischem Land aussehen,
sondern tatsächlich in einem seiner Ausläufer liegen. Da wohnt übrigens
Viva-Gründer Dieter Gorny.
Südlich von Werden, auf den Äckern und sanften Hügeln sieht Essen noch
so aus wie vor 150 Jahren. Die Stadt hat damals eine seit dem
Mittelalter unveränderte Agrarlandschaft überwuchert. Dörfer wurden
plötzlich zu Stadtteilen, die Stadtteile zu neuen Heimaten von
Hunderttausenden, die aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien kamen. Die
Träume der Zugezogenen trieben den Wachstumsmotor Essens an. Die Träume
von einem besseren Leben waren groß, die Stadt wucherte rasant. Essen
hatte nie die Zeit, um aus den alten Dörfern, den neuen Siedlungen der
Einwanderer, den Industriearealen ein Ganzes zu machen. Die Stadt wuchs
einfach über alles hinweg, erfand sich Jahr für Jahr neu. So ähnlich
soll es ja in Berlin vor fünf Jahren gewesen sein, als die Menschen in
die urbanen Brachen strömten und „eine zärtliche Poesie, eine
Verlorenheit, die ganz aus dem Moment schöpfte“ fanden, wie einer der
Zugezogenen, Georg Diez, heute schreibt. In Essen gibt es dieses Gefühl
seit 150 Jahren. Wer mit der 107 durch Essen fährt, spürt es.
Von Bredeney rollt die Straßenbahn bergab Richtung Norden, einem
anderen Essen entgegen. Am Fuß des Bredeneyer Berges gleiten noch
Gründerzeitvillen vorbei, dann an der Grenze zu Rüttenscheid
Werbeagenturen, ein IT-Dienstleister, der Software für die
Schweizerische Post und die Österreichischen Bundesbahnen programmiert.
Dann taucht die 107 unter die Erde, schlängelt sich unter Rüttenscheid
hindurch, das man aber unbedingt auch über Tage sehen sollte. Warum,
sieht man an den Fahrgästen, die am Rüttenscheider Stern einsteigen.
Sie sind jünger als in Bredeney und für junge Menschen oft erstaunlich
gut gekleidet. Hier tragen junge Frauen oft Handtaschen, selten
Sportschuhe, die Männer eng geschnittene Anzüge zu Körpern, denen
dieser Schnitt schmeichelt. Das ist Rüttenscheid. Hier trinken in der
Mittagssonne auf den Straßen stilbewusste junge Menschen Kaffee, im
Café Mondrian sieht man dabei manchmal auch Otto Rehagel. Aber das
allein ist nicht Rüttenscheid. Hier ist nicht alles schick. In einer
Seitenstraße residiert auf einem Hinterhof Magmafilm, eines der
führenden Studios für Pornoproduktionen in Deutschland. Anfang der 90er
von Walter Molitor gegründet, von seinem Sohn Nils Molitors zum Global
Player aufgebaut. Magmafilm macht Geschäfte mit Frankreich, Los Angeles
und machte auch welche mit Sibel Kekilli. Und am Ende der Straße sitzt
eine der führenden Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaften
Deutschlands. Und gegenüber, in einer alten Pommesbude, eins der besten
und wenigen vegetarischen, gar veganen Restaurants im Ruhrgebiet: das
Zodiac. Mohammad Golestan Parast hat 1987 eröffnet. Er war aus dem Iran
geflohen, hatte in Essen Deutsch gelernt und sich hier den Traum vom
eigenen Restaurant erfüllt. Er kam mit derselben Hoffnung auf ein
besseres Leben nach Essen wie so viele vor ihm: Erst die Ostpreußen,
dann ab 1950 Italiener und Griechen, später Türken. Sie haben die Stadt
mit aufgebaut und neu erfunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 60
Prozent des gesamten Stadtgebietes zerstört. Die Industrie blühte bald
noch einmal auf, doch schon in den Sechzigern begann die Verschiebung
zur Dienstleistungsgesellschaft. Zechen und Hütten machten dicht, neue
Jobs entstanden im Handel, in der Gastronomie. Heute arbeiten drei
Viertel der Essener Beschäftigten im Dienstleistungssektor.
Eine Haltestelle nördlich vom Rüttenscheider Stern sieht dieses neue
Essen am besten aus: Um die 69000 Quadratmeter des Stadtparks
gruppieren sich der Saalbau, das Aalto-Theater, die eckigen Glastürme
der RAG und der runde Leuchtturm der RWE, Konzernzentralen von Hochtief
und Steag. Im Gras dazwischen liegen im Sommer junge Menschen und unter
den schattigen Bäumen in der Allee am Rand spielt täglich etwas ältere
Herren Boule.
Diese Idylle ist nur ein paar Meter vom hässlichsten Hauptbahnhof
Deutschlands entfernt. Hier steigt eine junge Frau mit großer, cooler
schwarzer Brille in die 107. Sie wird am Weltkulturerbe Zollverein
aussteigen. Natürlich. Anderswo in den Norden, nach Katernberg fahren
sonst nur selten Menschen mit coole Brillen. Die Jungen tragen hier
eher Baseballkappen, bleiche Jeansjacken mit RWE-Aufnähern (RWE wie die
Fußballlegende Rot-Weiß Essen, nicht wie der Konzern, der zufällig auch
so heißt), die Alten zu enge oder zu weite Kunststoffjacken. Na und?
Jacken machen Menschen nicht liebenswert. Die große Sorge vor der
vermeintlichen Kälte aber, mit welcher der italienische Papa in seiner
dick wattierten Jacke kämpft, als er seine beiden kleinen Jungs nach
langem Hinundher doch die gestreiften Wollmützen abnehmen lässt. Das
verschämte Lächeln des alten türkischen Herren mit dem Fischgrät-Mantel
und Spazierstock, der die Fahrt über versucht, sein Mobiltelefon
richtig klingeln zu lassen. Es brummt nur, er blickt auf, hebt die
Schultern und lächelt peinlich berührt.
Nördlich der Essener Innenstadt taucht die 107 wieder aus dem Tunnel
auf. Rechts bietet der Jaguar-Händler auch ein paar Cadillacs an, links
liegen Schrebergärten. Holzschilder mit eingeschnitzten Namen verraten
die stolzen Besitzer. Am Herbertshof stehen alte Männer in zu engen
Jacken an einem Trafokasten. Auf dem haben sie ihre Bierflaschen
abgestellt, um beim Gespräch besser gestikulieren zu können.
So richtig im Norden fühlt man sich, wenn die Straßenbahn nach der
Stiftskirche den Stoppenberger Kapitelberg hinunterrollt. Man blickt
auf das Gelände der 2002 zum Weltkulturerbe erklärten Zeche Zollverein.
Blasen die Kühltürme, die Gasfackel, die Schornsteine der Kokerei noch
die Abfälle in die Luft? Nein, da hängen nur die Wolken tief. Und dann
plötzlich zwischen ihnen blauer Himmel. Industriekulturidylle.
Zollverein ist für Katernberg mehr als eine schöne Kulisse. 220
Arbeitsplätzen sind hier bereits entstanden, auf dem Zechengelände
blühen im Existenzgründerzentrum „Triple Z“ kleine Firmen auf.
Katernberg steckt mit seinen 24000 Einwohnern noch mitten in der
Neuerfindung, die Agentur- und Designerstadtteil Rüttenscheid hinter
sich hat. Vor zwölf Jahren erst schloss die Kokerei Zollverein. Damit
verlor der Stadtteil nicht nur Jobs, sondern seine Identität.
Katernberg war mit der Industrie gewachsen, jetzt muss es sich neu
erfinden.
Je weiter die 107 nach Norden fährt, desto mehr Sonnenstudios,
Telefonshops und Sportwettbüros fallen auf. wie viele Nationen zur
Katernberger Mischung gehören, weiß niemand so genau. Am Katernberger
Markt heißt das Reisebüro Parsczenski, die Trinkhalle am Abzweig
Katernberg heißt Karaüzüm, bietet aber das Standardrepertoire gehobener
Revier-Büdchen: belegte Brötchen, Spirituosen, Tabakwaren.
Auf der Strecke nach Gelsenkirchen fährt die 107 an Katernbergs
Zechensiedlungen vorbei: Glückauf, Meerbruch, Ottekampshof. Hier steht
in manchem Garten noch ein Taubenschlag. Und Sonntag mittags sitzen die
alten Taubenväter in der „Zollverein Klause“ beim Bier und schauen,
wessen Tauben gewinnen.
Donnerstags findet man die alten Kumpel von Zollverein ein paar
Haltestellen der 107 weiter, an der Gelesenkirchener Trabrennbahn, die
ja noch fast in Essen steht. Der Verkäufer der „Fachzeitung für
Trabrennsport und –Zucht“ (gern gekauft wegen der Wetttipps) am Eingang
hat seine eigene Theorie zum Erfolg der Rennbahn: „Jeder zweite von den
alten Bergleuten hatte ja Tauben. Und wenn die bei schlechtem Wetter
nicht starten konnten, kamen die Kumpels zum Trabrennen.“ Und hier, bei
Pommes und Pilsken, mit Blick aufs Rennen und die Bergehalde im
Hintergrund ist Essen ganz bei sich selbst. Die Stadt hat viele Seelen,
viel Flair und ein einmaliges Lebensgefühl: Sie bricht ständig
irgendwohin auf. Wie der Revier-Veteran Peter Erik Hillenbach in seiner
Gebrauchsanweisung fürs Ruhrgebiet schreibt: „Ein Ort, ohne Folklore zu
sein. Und doch war man hier zu Hause. Wer wegging, konnte sich nie von
seiner Herkunft lösen. Das Gebrochene, das halb Entwurzelte und halb
Bodeständige, nahm man mit in die Welt. Sogar die Gastarbeiter hatten
Heimweh nach diesem Gefühl.“ Oder wie es ein in den Pott heimgekehrter
Portugiese sagte: „Was soll ich in Portugal?“
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