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Vom Orbis Tertius zum Third Place
Zur Kulturgeschichte des Computerspiels
Abstract
Der
Text nähert sich Kultur und Geschichte der Computerspiele entlang von
vier Traditionslinien: (1) Simulation und das Ausgeben des Spiels als
Ernstfall wurzeln im frühen militärischen Kriegsspielen. Neuere
strategische Simultionsspiele hinterfragen jedoch das lange Zeit
geltende Dogma der Nullsumme und machen Alternativen zur Kriegslogik
spielbar. (2) Technik war schon in den frühen Arcades oft nicht allein
Mittel zum Spiel, sondern auch dessen eigentliches Thema. Später
determinierten technische Grenzen vor allem actionlastige
Spielkonzepte, heute jedoch beschreiben Spiele auch wieder das
Verhältnis von Mensch und Maschine. (3) Das Streben nach und in
imaginären Unterhaltungsumwelten ist älter als das Computerspiel. Doch
das hat sich als ideales Medium erwiesen: Von frühen Rollenspielen bis
hin zu spielbaren virtuellen Realitäten oder „pervasive gaming“, das
eine Erweiterung der physischen Realität versucht. (4) Schon die ersten
Spiele wurden in subkulturellen Gemeinschaften produziert und
rezipiert. Computerspiele waren nicht nur erste Anwendungen der
Organisationsform der Open-Source-Bewegung, sondern sind seit den
achtziger Jahren auch die ersten Experimentierfelder für das
Zusammenleben in Online-Gemeinschaften.
I. Einleitung
In
seiner Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ beschreibt Jorge Luis
Borges die Entdeckung einer dritten Welt in der unseren. Sie beginnt,
als der Erzähler einen Artikel in einem missbräuchlichen Nachdruck der
Enzyclopaedia Britannica findet. Der Text beschreibt ein Land namens
Uqbar, dessen Literatur sich ausschließlich mit den Phantasiereichen
Mlekhna und Tlön befassen soll. Die im Beitrag angegebenen Quellen sind
nicht aufzufinden. Nach Recherchen kommt der Erzähler zum Schluss:
„..., dass diese brave new world das Werk einer Geheimgesellschaft von
Astronomen, Biologen, Algebraikern, Moralisten, Malern und Geometern
ist. (...) Anfangs war man der Ansicht, Tlön sei ein bloßes Chaos, eine
unverantwortliche Ausgeburt freier Phantasie; heute weiß man, dass es
ein Kosmos ist und dass die verborgenen Gesetze, die ihn lenken, wenn
auch nur provisorisch formuliert worden sind.“ (Borges, 2001, S. 20f.)
Längst
ragt eine solche dritte Welt in die Neue und Alte hinein: Man muss nur
das initiierende Trägermedium Enzyklopädie bei Borges gegen das
Computerspiel austauschen. Der Regisseur David Lynch hat das den
Betrachtern in einem Werbespot für die Videospielkonsole „Playstation
2“ sehr schön vor Augen geführt: Ein Rehkitz springt da durch den
herbstlichen Wald, bleibt auf einer Straße stehen, blickt zum
heranbrausenden Pick-up. Der Fahrer bremst, zu spät, sein Wagen knallt
gegen das kleine Tier – und wird nahezu zerstört. Kurz blickt das Kitz
über die eingedrückte, dampfende Motorhaube zum schockierten Fahrer und
läuft dann einfach weiter. Der Slogan des Werbespots erscheint:
„Different Place – Different Rules“. Das Motto der Kampagne „Welcome to
the Third Place“. Deutlicher kann der Bezug zu Borges Orbis Tertius
nicht sein, deutlicher kann der Reiz des Spiels nicht erfasst werden.
Wie Johan Huizinga schreibt: „In der Sphäre des Spiels haben die
Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung“ (Huizinga,
1997,S. 21)
Es gehört zum Wesen jedes Spiels, eigene Gesetze zu
etablieren und so eine autonome Spielwelt zu schaffen. Wenn man die
Ursprünge und Wandlungen bestimmter Grundformen dieser Gesetze
nachzeichnen will, muss man Spiele aufgrund dieser Eigenschaft zuerst
als Spiele begriffen und analysiert werden. Versuche, sie als
Literatur, Film oder irgendeine andere etablierte Form zu beschreiben,
können nur als Trivialisierung oder Apologie enden. Bei solchem
Vorgehen bieten und sind Spiele dann entweder weniger oder weit mehr
als andere Formen kultureller Produktion – doch über die Spiele selbst
sagen diese Analysen meist wenig. Denn zunächst sind Spiele, vor allem
Computerspiele, einfach anders. Deshalb führen die nächsten Seiten
entlang von vier Traditionslinien in der Computerspielgeschichte näher
zum Orbis Tertius, den schon so viele als Third Place bevölkern.
II. Ursprünge
1) Spiel als Ernstfall: militärisches Kriegsspiel
Obwohl
sein Name es hoffnungslos macht, setzt das Kriegsspiel alles daran,
nicht als Spiel erkannt zu werden. Es will ein Ernstfall sein, will,
dass Kriege nach seinen Spielregeln verlaufen - oder Menschen dies
zumindest glauben. Das ist das Wesen der strategischen und taktischen
Simulation. Doch dass sie in erster Linie Spiel sind, zeigt schon ihr
ganz im Sinne Huizingas abgegrenzter Ort: Als 1824 preußische Offiziere
begannen, mit dem Kriegsspiel zu trainieren, taten sie dies auf
Sandflächen, die dann später zu immer detaillierteren topographischen
Karten geformt wurden. Sand simulierte das Terrain, Holzklötze und
Metallfiguren die Einheiten. Die Gesetze, die nur an diesem Ort galten,
wurden in einem Regelbuch kodifiziert, ihre Einhaltung von einem
Schiedsrichter überwacht. So sah die Spielsoftware des analogen
Zeitalters aus.
Bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts änderte sich nicht viel am Designprinzip dieser Software.
Das Problem war die Geschwindigkeit: Da ein Mensch die die Konsequenzen
der Handlungen berechnen musste, konnten nur wenige Züge am Tag
gespielt werden. Im Pentagon brauchte man in den fünfziger Jahren für
die Vorbereitung eines Spiels drei Monate. Waren dann alle
Informationen über den Ort des Spiels in einem Fact Book
zusammengefasst und ein Krisenszenario entwickelt, spielten zwei
Gruppen mit je fünf bis zehn Mitgliedern drei Tage lang.
Keine Spur
von Interaktion in Echtzeit. Und doch wurden auf solch analoge Art und
Weise während beider Weltkriege Strategien erprobt. Das hat ausführlich
unter anderem der Medienwissenschaftler Claus Pias in seiner
Dissertation „ComputerSpieleWelten“ (vgl. Pias, 2000) beschrieben: In
Kriegsspielen erprobt wurden der Schlieffen-Plan, der deutsche
Einmarsch in Polen, in Japan gar am „Naval War College“ 1940 elf Tage
lang der Angriff auf Pearl Harbour.
Der Computer als
Anwendungsmaschine aufgestellter Gesetze war prädestiniert für das
Spiel im Allgemeinen und das Kriegsspiel im Besonderen. In den
fünfziger und sechziger Jahren bezogen in den Vereinigten Staaten
sowohl Marine als auch Armee und Luftwaffe, Computer in ihre
Kriegsspiele ein. Ein Beispiel ist der „Navy Electronic Warfare
Simulator”, der 1958 in Betrieb genommen wurde. Die Regeln über
Bewegungsradius, Waffenreichweite und Schaden der einzelnen Einheiten
wandte hier erstmals ein Computer an.
Diese Reizsteigerung eines
Spiels durch oberflächliche Verleugnung seines Wesens wirkte – und
wirkt - nicht nur bei strategischen und taktischen Simulationen. Noch
bevor die US-Marine ihren ersten analogen Flugsimulator kaufte, standen
die ersten rein mechanischen Exemplare des Entwicklers Edward Link in
US-Vergnügungsparks. Die Besucher erfreuten sich am „Link Trainer“ aus
demselben Grund, der ihn auch attraktiv fürs Militär machte: Das Spiel
gibt sich als Ernstfall aus, als kleine, handhabbare Version desselben
Kontinuums. Je weniger dabei jene Unterschiede betont werden, die es
trotz Simulation zum Spiel machen, desto größer der Spaß. .
2) Technik, die begeistert: Arcades
Nicht
um den Ernstfall, sondern eher um Action und das Trägermedium des
Spiels ging es in den Arcades. Sie ähnelten den Vergnügungsparks, in
den zuerst am „Link Trainer“ gespielt wurde. Doch zwei wesentliche
Eigenschaften grenzen die Arcades ab: Vergnügungsparks sollen – ganz
gleich mit welcher Technik – einen oder zumindest einen halben Tag die
Aufmerksamkeit der Besucher binden und sie unterhalten. Die Arcades
hingegen, eine Mischung aus Jahrmarkt und Spielhalle, lockten schon vor
der Computerära mit neuester Technik ihr Publikum in amerikanischen
Innenstädten. Auch die Aufmerksamkeitsspanne einer kurzen Mittagspause
reichte, um Büroboten oder Sekretären in den Arcades für einige
Augenblicke Vergnügen und Teilhabe an vermeintlich neuesten
technologischen Entwicklungen erleben zu lassen. Die Botschaft war
auch: Jeden kann am Fortschritt teilhaben, nicht zuletzt deswegen
hießen jene Orte auch „penny arcades“. Ein Augenblick technisch
induzierten Vergnügens kostete eben so viel.
Die ersten Arcades
entstanden Ende des 19. Jahrhunderts. Die Menschen steckten ihre Pennys
in Phonopgraphen, hielten sich Hörrohre an den Kopf und lauschte
Politikerreden oder populärer Musik. In den 1890er Jahren führte die
„Columbia Graphaphone Company“ den Markt an. Sie vermietete ihre
Jukeboxen an die „penny arcades“ und Edison, der zunächst der Idee
einer unterhaltungsindustriellen Vermarktung seiner Erfindung skeptisch
gegenüberstand, konnte an seinen Einnahmen den wirtschaftlichen Sinn
ablesen.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts dann löste in den
Arcades eine neue Attraktion den technisch gebannten Ton ab: Bewegte
Bilder. Für sie entstanden neben den Arcades sogar eigene Räume, die so
genannten „Nickelodeons“, in denen man einen Nickel je Kurzfilm zahlte.
10000 davon entstanden in den Vereinigten Staaten binnen drei Jahren.
„This line is a Klondike“, zitierte 1907 Joseph Medill Patterson (vgl.
Patterson, 1907) einen Nickelodeon-Vertreter. Dieser „gold rush“
wiederholte sich später, als in den siebziger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts die Videospielautomaten Einzug in die Arcades hielten und
dort Flipperautomaten ablösten. Das Bild bewegte sich da nicht mehr nur
einfach, sondern abhängig von den Handlungen seines Betrachters.
Für
die Videospielautomaten galten dieselben vier Grundsätze, welche schon
den Erfolg mechanischer Arcade-Spiele bestimmt hatten: Spielkonzepte
müssen intuitiv erfassbar sein. Spieler dürfen nur wenig Aufmerksamkeit
ins Spiel investieren müssen, um in seinen Bann geschlagen zu werden.
Weite Spannungsbögen sind Tabu, langfristige Bindung darf allein durch
die Wiederholung des Spiels mit Aussicht auf Leistungssteigerung
entstehen. Und vor allem: Die Spieler müssen das Gefühl haben mit
Hochtechnologie umzugehen anstatt mit einer Reinkarnation des
Mühlebretts.
3) Am Anfang das Wort: Fantasyliteratur als imaginäre Unterhaltungsumwelt
Sie
geben das Spiel weder als Ernstfall aus wie die Simulationen, noch sind
sie auf möglichst kurze Aufmerksamkeitsspannen ausgelegt wie die
Spielautomaten in den Arcades. Die aus Fantasyliteratur entstandenen
Rollenspiele und die aus diesen Rollenspielen entstandenen
Computergames sind vielmehr der eigentlich unmögliche Versuch,
Erzählung und Spiel zusammenzuführen. Durch diese Verschmelzung wollen
sich die Spieler durch eine imaginäre Unterhaltungsumwelt bewegen.
Am
Anfang dieser Traditionslinie steht John Ronald Reuel Tolkiens Epos
„Der Herr der Ringe“. Noch heute verwenden Computerspiele wie „Baldur’s
Gate“ die von Tolkien, beziehungsweise durch seine Rezeption mythischer
Figuren und Inhalte, begründeten Genrekonventionen. Das überrascht
kaum. Denn Tolkiens Roman war vielleicht die erste virtuelle Realität,
oder besser imaginäre Unterhaltungsumwelt. Tolkien wollte keinen Roman
schreiben, sondern Geschichte. Nämlich die mythische, längst vergessene
Geschichte jener Welt, die er Mittelerde nannte. Erst der Erfolg des
„Herrn der Ringe“ weckte das Publikumsinteresse an Tolkiens
Weltschöpfung. Aber eben diese Schöpfung hat den Erfolg von „Der Herr
der Ringe“ erst ermöglicht.
Tolkien entwickelte zunächst die
Sprachen seiner Welt, bevor er an ihre Geschichten dachte: Die
Verbindung zwischen beidem ist bei Tolkien der Mythos. Er ermöglicht es
dem Menschen, in einem gewissen Sinn Weltenschöpfer zu werden. Tolkien
wollte nach-schöpferisch den Menschen eine verschollene Welt
wiedergeben. Und das hat sein Werk so erfolgreich gemacht.
Bereits
Ende der sechziger Jahre entstand die Idee, Tolkiens virtuelle Welt sei
im Spiel intensiver da interaktiver zu erfahren als in der Literatur.
Die Idee entwickelte sich in einem Kreis von Hobby-Kriegsspielern. In
Minneapolis hatte Dave Wesley 1968 die Idee, Kriegsspiel über die
reinen Nullsummenspiele hinaus zu entwickeln. Anstatt zweier
Fraktionen, von denen die eine zwangsläufig den absoluten Gewinn, die
andere den absoluten Verlust davontrug, wollte Wesley mehrere
Spielparteien mit unterschiedlichen Eigenschaften und Zielen antreten
lassen. Da es unterschiedliche Ziele gab, konnten auch mehrere Sieger
aus einem Spiel hervorgehen. Doch der erste Spielversuch in der
fiktiven Stadt Braunstein endete im Chaos, wohl weil die neuen Inhalte
die Form des Kriegsspiels überforderten. Doch einer der Spieler, Dave
Arneson, hatte die entscheidende Idee: Warum nicht Individuen statt
Fraktionen spielen? Sein Ziel war es, die Welt von Tolkiens „Herr der
Ringe“ – 1969 erreichte das US-Taschenbuch nach nur fünf Jahren seine
25. Auflage – im Spiel erfahrbar zu machen.
1971 hatte Arneson dann
ein System entwickelt, das Spieler als individuelle Charaktere durch
virtuelle Welten laufen, Zaubersprüche sprechen und mit magischen
Schwertern gegen Drachen und Hobogoblins kämpfen ließ. Zusammen mit
einem anderen Kriegsspieler, Gary Gygax, entwickelte Arneson daraus das
erste kommerzielle Rollenspiel: „Dungeons & Dragons“. Noch heute
funktionieren klassische, papierbasierte Rollenspiele nach einem
ähnlichen Prinzip: Der Dungeonmaster genannte Spielleiter beschreibt
den Spielern die Räume durch sie sich bewegen, die Menschen, die sie
treffen. Er ist die Schnittstelle zur Spielwelt. Durch diese führen die
Spieler ihre Charaktere. So bricht etwa ein schmächtiger Jurastudent
als finsterer Magier nachts in Schlösser ein, um an wertvolle
Zauberbücher zu kommen. Ob ihm das gelingt, entscheidet der Spielleiter
nach einem recht komplizierten, im Regelbuch festgehaltenen System von
Würfeln und auf dem Charakterbogen in Zahlen festgehaltenen
Eigenschaften des Charakters. Das Würfeln ist aber nicht der Kern des
Rollenspiels. Es ist vielmehr das Werkzeug zur Simulation der Spielwelt
und der Verhältnisse der Spielcharaktere zu ihr. Ein gelungenes
Rollenspiel ist vor allem das kollektive Erleben der Erzählung von und
der Bilder aus einer imaginären Unterhaltungsumwelt.
Das Bedürfnis
nach solchen Erfahrungen war und ist offensichtlich enorm: Bereits 1982
war „Dungeon & Dragons“ in 14 Sprachen übersetzt. Damals begann
auch der Computer, sich langsam zur alternativen Schnittstelle zu
entwickeln. Die ersten computerbasierten Rollenspiele waren „Temple of
Apshai“ und „Ultima 1 – Akalabeth“, die 1979 für den Apple II
erschienen. Der Computer konnte nur die Rolle des Spielleiters bei der
Kontrolle der Spiel-, beziehungsweise Weltregeln übernehmen, später
dann auch in immer besserer Qualität jene Bilder virtueller Welten
liefern, die schon in Tolkiens Roman angelegt waren. Moderne
Computerspiele wie „Neverwinter Nights“ benutzen heute noch die Regeln
des „Dungeons & Dragons“ Systems. Das Rollenspiel als kollektiv Weg
in imaginäre Unterhaltungsumwelten lebt heute Onlinerollenspielen
wieder auf. Diese über das Internet vernetzten Computerrollenspiele
übernehmen jene wesentliche Eigenschaft der klassischen,
nicht-computerbasierten Rollenspiele, die Computerspielen bisher oft
fehlte: Welten werden im Kollektiv und durch Interaktion mit anderen
Spielern erfahrbar.
4) Phantasiewirtschaftliche Produktionsgemeinschaften: Spielersubkultur
Ähnlich
wie klassische Rollenspiele a la „Dungeons & Dragons“ waren auch
frühe Spiele Produkte subkultureller Gemeinschaften und wurden in eben
diesen auch kollektiv rezipiert und überarbeitet. In der Anfangszeit
lag das an der beschränkten Verfügbarkeit von Computern und
Videospielautomaten. Die standen entweder an Universitäten oder in den
Arcades. Doch auch nachdem diese technische Begrenzung aufgehoben war
und Videospielkonsolen und später erste Computer in die Haushalte
einzogen, blieben Spiele Teil einer mit dem Begriff „Nerd“ sicher nicht
ganz unzutreffend beschriebenen Subkultur, in der sie erst zur vollen
Geltung kamen.
Eine der ersten dieser Gemeinschaften waren die
Hacker in den frühen 1960er Jahren. Am „Massachusetts Institute of
Technology“ (MIT), einem Biotop der Hacker-Subkultur, kamen im so
genannte „Tech Model Railroad Club“ (TMRC) Studenten zusammen, die den
größten Teil ihrer Freizeit - und auch ihres Unterrichts – mit
Computern und Elektronik verbrachten. Ursprünglich war der TMRC ein
Verein von Modelleisenbahnfans. Zu Beginn der Sechziger allerdings
wuchs die Fraktion derjenigen, die mehr Spaß an komplexen
elektronischen Signalanlagen statt an naturgetreuen Landschaften
hatten. Einer von ihnen war Stephen Russell. Er machte 1961 den Fehler,
seinen Freunden von der Idee eines Computerspiels für den
PDP-1-Computer zu erzählen. Von da an hatte er keine Ruhe, bis
„Spacewar!“ im Februar 1962 nach etwa 200 Arbeitsstunden in sechs
Monaten auf dem PDP-1 lief. Die hier aufscheinende Lust am Erproben von
Technik im Spiel ist letztlich eine andere Ausprägung des bereits in
den Arcades zu beobachtenden Verhaltens: Mit wachsender Kenntnis der
Spielregeln bemächtigt sich der Spieler nicht nur des Spiels, sondern
auch der ihm zugrunde liegenden Technik. Er glaubt zumindest, dies zu
tun.
Anders als die Spiele in den Arcades waren jene auf den
universitären Großrechnern offene Systeme. Sie wurden von ihren
Spielern in Gemeinschaftsproduktion verbessert: Peter Samson fügte bei
„Spacewar!“ einen realistischen Sternenhimmel hinzu, Dan Edwards eine
Sonne, Shag Garetz die Hyperspace-Option und so weiter. Die Spieler
wurden hier zu Gesetzgebern.
Aber auch die Rezeption von Spiele war
in den sechziger Jahren eine kollektive: Zwei Spieler traten
gegeneinander an, meist umringt von vielen anderen. Das Spielen von
„Spacewar!“ sah so aus: Zwei Raumschiffe mit begrenztem
Treibstoffvorrat kämpfen gegeneinander. Die Spieler steuern ihre
Schiffe mit je vier Knöpfen an der Bedienungskonsole des PDP-1: Drehung
im Uhrzeigersinn, Drehung gegen den Uhrzeigersinn, Beschleunigung,
Torpedoschuss.
Ein anderes bekanntes Spiel der Gründerzeit stammt
ebenfalls aus kollektiver Produktion. Die meisten Mitarbeiter des
US-Unternehmens „Bolt, Beranek and Newman“, das einen großen Teil der
technischen Grundlagen des Internets schuf, waren begeisterte
Rollenspieler. Einer von ihnen, William Crowther, verknüpfte 1972 seine
Begeisterung für „Dungeons & Dragons“, Tolkien, Computer und
Höhlenforschung zu dem Spiel „Collosal Cave Adventure“. Satz für Satz
muss sich der Spieler darin die Spielwelt – eine unterirdische Höhle
mit Schätzen und Ungeheuern – erschreiben. Denn mit ihr kann er allein
über Textbefehle interagieren. „Go north“ muss man etwa eintippen, oder
„open door“, woraufhin der Computer lange, beschreibende Text ausgibt.
Eine ganz ähnliche Spielsituation wie im Rollenspiel „Dungeons &
Dragons“ also.
Crowther beließ es bei einer Betaversion von
„Adventure“, die er zum Download ins ARPAnet stellte. Der Student Don
Woods bereicherte 1976 „Adventure“ um eigene Schätze, Rätsel und Elfen.
Das Spiel verbreitete sich über das ARPAnet so weit, dass fast jeder
amerikanische Programmierer, der in den Siebzigern studierte, es kennt
– und vielleicht selbst erweitert hat.
Heute werden Spiele in
ähnlichen subkulturellen Gemeinschaften verändert. Die so genannten
„Mods“ – Modifikation bekannter Spiele – sind meist das Ergebnis der
Teamarbeit über das Internet und die gemeinsame Subkultur vernetzte
Graphiker, Programmierer, Leveldesigner – und nicht zuletzt Spieler.
Ihre Modifications (Mods) bieten nicht nur eine neue Topographie in
Form von Levels, sondern bisweilen auch einige neue Gesetze. So zum
Beispiel Justin Fishers „Aliens Total Conversion“ von „Doom“ aus dem
Jahr 1994: Anstatt direkter Angriffe und Geschwindigkeit sind hier List
und Langsamkeit gefragt. Damit war das Spiel seiner Zeit um Jahre
voraus.
Weit bedeutender ist bei vielen heutigen Spielen aber die
kollektive Rezeption. Gerade in Onlinerollenspielen entsteht die
eigentliche Spielwelt erst durch die Interaktion mit anderen Spielern.
Hier lebt die anfangs durch technische Gegebenheiten, aber auch
Traditionen des Rollenspiels bedingte kollektive Rezeption fort, aber
auch die aus papierbasierten Rollenspielen bekannte gemeinsame
Inszenierung der virtuellen Realität durch die Spieler.
III. Entwicklung
1) Vom Kriegsspiel zur Simulation
Mit
dem Reiz des Spiels als Ernstfall locken und fesseln Computerspiele
heute noch Kunden. Augenfällig für die Allgemeinheit wurde das bei der
Diskussion um PC-Flugsimulatoren als mögliche Trainingsgeräte für die
Anschläge vom 11. September 2001. Doch hier wurde ein nicht unbedingt
zulässiger Umkehrschluss gezogen: In erster Linie funktionieren auch
kommerzielle Simulationen als Spiele. Sie behaupten nur, dass ihre
Gesetze auch in der Realität gelten. Doch das muss nicht stimmen.
Strategische oder räumliche Simulationen übernehmen zwar gewisse
Gesetze aus der Wirklichkeit – doch längst nicht alle. Die Kapitulation
ist in strategischen und taktischen Simulationen nur selten eine
komplett spielbare Option. Das Spiel ist dann meist vorbei und man wird
nie erfahren, wie es der Bevölkerung tatsächlich fünf oder zehn nach
einer Kapitulation ergeht.
Ohne solche zeitlichen, räumlichen und
narrativen Schranken wären Spiele weder zu begreifen noch zu spielen.
Die notwenige Abstraktion verdeutlich das Rennspiel „Top Gear Dare
Devil“ aus dem Jahr 2001: Wie gewöhnlich bei Raumsimulationen rast man
hier mit schnellen Autos umher. Ein so genannter „physics engine“ sorgt
dafür, dass bestimmte Naturgesetze – etwas für die beim Aufprall
wirkenden Kräfte – gelten. Allerdings nicht alle, denn es fast
unmöglich, ein Auto zum Umkippen zu bringen. Was wäre das auch für ein
Rennspiel, wo man sich in scharfen Kurven ständig überschlüge?
Hier
scheint das eigentliche Kriterium zur Trennung von Actionspielen und
Simulationen auf: Das gefundene Gleichgewicht zwischen der
Eigengesetzlichkeit des Spiels und der Behauptung des Ernstfalls. Bei
Actionspielen fällt die Balance zugunsten des spielerischen Elements
aus. Die Eigengesetzlichkeit der Spielwelt wird hier nur – wenn
überhaupt – notdürftig kaschiert. In Actionspielen wie „Doom“, „Quake“
oder „Bleifuß“ geht es vor allem um Geschwindigkeit und eine
entsprechend schnelle Entscheidungsfindung unter Zeitdruck. So entsteht
Spannung.
In Simulationen ist die Zeit ein weit weniger bestimmendes
Moment, zum Teil fehlt der Zeitdruck sogar ganz wie zum Beispiel bei
rundenbasierten Strategiespielen. Der Reiz der Simulation ist ihre
Entscheidungsvielfalt. Klassische Strategie- und Taktikspiele wie
„Panzergeneral“ oder „Command and Conquer“ übernehmen dabei das
Funktionsprinzip der Kriegsspiele. Sie sind ein Nullsummenspiel, das im
Prinzip nur ein Ende haben darf: den absoluten Sieg.
Solche
Simulationen sind eigentlich noch viel restriktiver als narrative
Spiele. Sie bieten zwar im Spielverlauf mehr Handlungsoptionen, laufen
aber alle auf ein durch die Eigengesetzlichkeit des Spiels
determiniertes Ende zu. Doch hier ist seit Ende der neunziger Jahre
eine neue Entwicklung zu beobachten. Anders als narrative Spiele führen
in neuen Simulationen wie „Civilization 3“ oder „Black & White“ die
Entscheidungen nicht über parallele Erzählstränge zum selben Schluss
oder auf eine beschränkte Zahl alternativer Enden hin. Im Gegenteil:
Diese Simulationen umfassen eine fast unbeschränkte Anzahl alternativer
Entwicklungsstränge, die sich zudem ständig verzweigen.
In
„Civilisation 3“ hat der Spieler ein vergleichsweise konkretes Ziel -
die Entwicklung einer Zivilisation. Den Reiz des Spiels macht aber
nicht das Ende aus. Denn nach einer beendeten Partie - wenn man etwa
kulturelle Hegemonie errungen, das Weltall besiedelt, militärisch
dominant ist oder die Erde diplomatisch kontrolliert - verlangt es den
Spieler sogleich nach der nächsten.
Je öfter das Spiel wiederholt
wird, desto mehr Spaß macht es, weil der Spieler langsam den Prozess
begreift, der zum Ende führt, ohne ihn aber jemals völlig kontrollieren
zu können. So viele Variablen beeinflussen den Spielverlauf, dass eine
Handlungseffizienz im Sinn klassischer Kriegsspiele nach dem Muster, in
entscheidenden Momenten die richtigen Aktionen durchzuführen, unmöglich
ist. Stattdessen gehen die Entscheidungen des Spielers in einen
größeren Prozess ein, aus dem der Spielverlauf resultiert.
Zu diesen
Simulationen zählt auch „Die Sims“. Hier gibt es überhaupt kein
Szenario, das man als Spielziel auffassen kann. „Die Sims" ist eine
Simulation suburbanen Lebens. Der Spieler kontrolliert das Leben
einiger relativ normaler Menschen: Er kann ihre Wohnungen einrichten,
sie in Urlaub fahren lassen und viele andere Variablen verändern, die
das so genannte Leben dieser Wesen beeinflussen. Sie können Karriere
machen oder nicht, sie können sich verlieben oder an Liebeskummer
leiden, sie können viele Freunde haben oder recht einsam ihr Dasein
fristen. Das Ziel des Ganzen? Der Spieler muss sein eigenes finden.
Das
zentrale Element von „Civilization 3“ und „Die Sims“ ist nicht die
Erzählung, sondern die Simulation. Und das ist nur folgerichtig.
Vielleicht können Computerspiele uns nämlich mehr über unsere Welt
erzählen, wenn sie das tun, wozu Computer prädestiniert sind: bestimmte
Gesetzmäßigkeiten nachzuahmen und die durch sie bedingten Prozesse
ablaufen zu lassen. Das stellte vor einigen Jahren der renommierte
Spieldesigner Brian Moriarty fest, als er sagte: „Anders als jedes
frühere Medium können Computerspiele den Menschen etwas verdeutlichen,
indem sie sie es durchleben lassen.“
Der entscheidende
Entwicklungsschritt von frühen, am Kriegsspiel orientierten
Simulationen wie „Battle Isle“ oder „Command HQ“ hin zu den neuen a la
„Die Sims“ ist, dass nicht mehr die uneingeschränkte Gültigkeit ihrer
Gesetze in der Welt außerhalb des Spiels behaupten. Dabei ist gerade
das bei Spielen, deren Ergebnisse in einem emergenten Prozess berechnet
anstatt im Vorhinein determiniert zu werden, wahrscheinlich eher der
Fall als beim alten Kriegsspiel mit seinem Nullsummen-Dogma.
2) Von Technikbegeisterung zu technisch induziertem Spaß
Das
Spielprinzip in Actionspielen ist dem der Simulationen diametral
entgegengesetzt. Nicht die Entscheidungsvielfalt, sondern die
Zeitknappheit für die Wahl zwischen relativ beschränkten
Handlungsoptionen bestimmt den Weg des Spielers.
Zeitknappheit und
Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten waren schon Merkmale der
Videospielautomaten in den Arcades. Diese Spiele verlangten ihren
Spielern nur kurze, aber meist kontinuierlich gen Unendlichkeit
aufeinander aufbauende Aufmerksamkeitsspannen ab. Die sahen ungefähr so
aus: Der Spielort änderte sich topographisch kaum, wurde aber von mehr
und schneller agierenden Gegnern bevölkert. Dadurch blieb die
Bandbreite der Spiele begrenzt, was sich auch später auf die
Heimkonsolen übertrug.
Exemplarisch ist für ein durch diese
Einschränkungen bestimmtes Spielprinzip der erste erfolgreiche
Videospielautomat, „Pong“ aus dem Jahr 1972. Die auf die Automaten
gedruckte Anleitung beschränkte sich auf fünf Worte: „avoid missing
ball for highscore“.
Den Ball immer zurückschlagen, das war ein
intuitiv erfassbares, wenn auch eher abstraktes Spielprinzip. Bei
„Pong“ macht der Wettbewerb zweier Spieler die Abstraktheit des
Wettbewerbs wett. In der Regel formulierte Automatenspiele aber den
Wettbewerb sehr konkret formuliert. In „Space Invaders“ von 1978 – das
in Japan entwickelte Spiel war in den Vereinigten Staaten erstaunlich
erfolgreich – muss der Spieler vom Spiel als Invasoren deklarierte
Raumschiffe abschießen. Groß angelegte Erzählungen sind unnötig, wenn
das allen Menschen bekannte und dennoch so fesselnde Prinzip des
Zweikampfs Grundlage eines Spiels wird.
Folgt man Huizingas
linguistischer Analyse des Verhältnisses von Spiel und Wettkampf an,
verwundert die Entwicklung der Automatenspiele nicht: „Spiel ist Kampf,
und Kampf ist Spiel.“ (Huizinga, 1997, S. 52). Eine ähnlich
fundamentale Notwendigkeit zumindest von Konflikt sieht der
Spieledesigner Chris Crawford gegeben: „Conflict is an intrinsic
element of all games. It can be direct or indirect, violent or
nonviolent, but it is allways present in every game.“ (Crawford, 1997,
S.14). Ähnlich beschreibt es auch Arthur Asa Berger: „If you take
conflict out of a game, you destroy the reason for interaction. Without
this interaction you don’t have a game.” (Berger, 2002, S. 16).
Spätestens
bei den Videospielkonsolen und Heimcomputern der achtziger Jahre war
der gewaltsam ausgetragene Konflikt keine Lösung technisch vorgegebener
Beschränkungen mehr. Und doch setzten Actionspiele wie „Doom“ und
dessen Nachfolger „Quake“ in den neunziger Jahren auf das schon aus
„Space Invaders“ bekannte Spielprinzip der von Level zu Level
fortschreitenden Wiederkehr des Bekannten: Bewegen und Schießen. Die
Egoshooter nutzen dieses Prinzip, um ohne größere Innovation ein
Immersionserlebnis durch eine rauschhafte Raumerfahrung zu schaffen.
Eine komplexe Handlung würde nur die unbedingt nötige Geschwindigkeit
bremsen, in der sich der Spieler durch die Spielwelt bewegt. Nicht ohne
Grund heißen auch einige der besten Rennspiele aller Zeiten „Bleifuß“
und „Need for Speed“. In „Max Payne“, dem interessantesten Actionspiel
zumindest des Jahres 2001, sind die Türen kein Hindernis mehr für den
Spielfluss: Anstatt einen Knopf zu drücken, muss man ihnen einfach nur
nahe genug kommen, schon öffnen sie sich ohne weiteres Zutun. War
Action im Anfang noch durch Technik und Rezeptionssituation in den
Arcades vorgegeben, ist sie in heutigen Spielen vor allem ein bewährter
Weg zum Immersions- und Raumerlebnis, aber auch ein leicht bedienbares
dramaturgisches Werkzeug.
3) Vom Wort zum Bild virtueller Realitäten
Spiele
wie William Crowthers „Collosal Cave Adventure“ waren in den siebziger
und achtziger Jahren sehr populär. Ein wenig geriet dabei der Inhalt in
den Hintergrund und die Form dominierte: Welten aus Worten zu
erschaffen wurde zum Selbstzweck und zur Strategie, um die Reputation
von Computerspielen anzuheben. Die Nähe zur Literatur betonte die Firma
Telarium mit Titeln, die auf Werken von Arthur C. Clarke oder auch
Agatha Christie beruhten. Ray Bradbury wirkte 1984 sogar an der
Umsetzung von „Fahrenheit 451“ mit. 1983 wurde sogar ein so genanntes
Textabenteuer in der Wochenendausgabe der „New York Times“ im
Literaturteil rezensiert (vgl. Rothstein, 1983) – nicht als
Computerspiel, sondern als „participatory novel“.
Allerdings ging
bei diesem direkten Bezug auf Literatur der eigentliche Grund für die
Tolkien-Begeisterung der ersten Programmierer und Rezipienten von
Computerspielen verloren: Nicht das Wie des Textes, sondern das Was der
Evokation einer virtuellen Realität stand damals im Vordergrund.
Deshalb hatten sich Tolkien-Fans zunächst auch der Form der
Kriegsspiele bedient, um Mittelerde erfahren zu können. Textabenteuer
wie auch die nachfolgenden Grafikadventure hingegen wollten vor allem
erzählen anstatt den Spieler Schritt für Schritt anhand möglichst
breiter Handlungsoptionen eine Welt erfahren zu lassen.
Das leistet
ein anderes Spielgenre: das Rollenspiel. Wie die ersten papierbasierten
Rollenspiele dem Kriegsspiel ähnelten, so hat auch das Genre des
Rollenspiels viel mit dem der Simulation gemeinsam. Der Reiz ist aber
nicht so sehr die Simulation der äußeren als vielmehr die der inneren
Welt der Spielcharaktere. Das Spielprinzip vereinigt Action, Narration
und die Simulation eines Lebens: Der Charakter muss die Spielwelt
durchwandern, ab und zu kämpfen und Aufträge erfüllen. Meist
beeinflusst er durch seine Taten Geschichten von epischer Breite,
durchs ganze Spiel und über die gesamte Spielzeit hinweg. Anders als
die Figuren in Adventuren lernt der Spielcharakter, er verbessert nicht
nur bestimmte Fertigkeiten, sondern verfügt auch über Erinnerungen, die
sein Wesen beeinflussen.
Die Rollenspielreihe „Ultima“ hat besser
als die meisten Adventure lineare Handlung mit der wahren
Interaktivität einer Simulation verknüpft. Es gab große Aufregung, als
ein Programmierer im Entwicklungsstadium von „Ultima IX: Ascension“
einem Fan, der fürchtete, die sehr große Handlungsfreiheit von Ultima
würde einem actionorientierten Plot geopfert, antwortete: „Es geht in
Ultima nicht wirklich darum, Brot zu backen.“ Das kann man nämlich in
einigen Ultima-Teilen. Nicht, weil es wichtig für die Entwicklung des
Plots wäre, sondern weil es wichtig für das Erleben der Spielwelt ist.
Deshalb sagte der Ultima-Schöpfer Richard Garriott später: „Es geht
natürlich auch genau darum, Brot zu backen.“ Und darum, das Innere des
Spielcharakters ebenso zu erfahren wie das Äußere seiner Spielwelt.
Deshalb
bietet das 2002 erschienene Rollenspiel „Morrowind“ beispielsweise 450
Milliarden – zumindest theoretisch mögliche - Variationen des
Spielcharakters. 300000 Objekte existieren in der sich über
Zehntausende von Quadratkilometern erstreckenden Spielwelt von
„Morrowind“, die nicht nur in Bildern, sondern auch mit gut 650000
Worten Dialog und Text beschreiben. Der Spieler soll in dieser Welt
einen Teil seines Leben verbringen: 500 Stunden dauert es laut
Projektleiter Todd Howard, alle von den Entwicklern angelegten
Geschichten durchzuspielen. Die Bäume, Flüsse und Hügel dieser Welt
sollen den Reiz ihre physischen Vorbilder so sehr übertreffen, dass
allein schon ihr Anblick den Spieler fesselt: „Ich hoffe, dass jede
Gegend die Spieler zwei Minuten still stehen lässt“, sagt der
künstlerische Leiter Matt Carofano.
„Morrowind“ ist eigentlich die
Rückkehr zur wohl ältesten Sehnsucht der Spieler: Eine Welt zu
erfahren. Das Spiel erzählt wie die besten papierbasierten Rollenspiele
(zum Beispiel die sich über 21 Episoden, beziehungsweise Wegstrecken
hinziehende Dragonlance-Reihe) eine Reise in Episoden. Der Spieler
trifft auf einem Schiff in einer Hafenstadt des Kontinent Vvardenfell
ein. Auf kaiserlichen Befehl wurde er aus einem Gefängnis entlassen,
allerdings ohne zu wissen warum. Von da an muss er sich das Land,
dessen und seine Geschichte, letztendlich auch die eigene Identität
erreisen. Die Episoden seines Weges bestimmt der Spieler allein. Erst
nach zwanzig oder mehr Stunden Spielzeit offenbart sich ihm der
eigentliche Plot des Spiels, doch selbst dann muss dieser nicht
verfolgt werden. Es reicht völlig aus, in der Welt von „Morrowind“ zu
leben und sie sich Wegstrecke für Wegstrecke zu erreisen.
Das
erinnert an die Reiseerzählungen der Renaissance, vor allem an die
Beschreibungen der Neuen Welt. (vgl. Fuller, Jenkins, 1994)
Beispielhaft für episodisches Erzählen ist John Smiths „A True
Relation“ von 1608, worin die Siedler zunächst einen Ort für ein Dorf
suchen, dann mit Indianern kämpfen, dann weiterziehen, dann mit
Krankheiten kämpfen, dann von Indianern gefangen werden - und so
weiter. Die Texte erreichen durch diese episodische Struktur ihr
eigentliches Ziel: Sie machen den fremden Raum langsam erfahrbar. Die
eigentliche Dramaturgie von „Morrowind“ wie auch die von „Der Herr der
Ringe“ oder den Renaissance-Reiseerzählungen kann man am besten auf
dazugehörenden Landkarten nachvollziehen. Das individuelle Spielen ist
die Aufführung der kartographischen Notation, ihr Ergebnis die Welt im
Kopf des Spielers.
4) Von der Subkultur zur virtuellen Gemeinschaft
Die
Gemeinschaften von Programmierern und Spielern – zu trennen waren die
in den sechziger und siebziger Jahren kaum – im physischen, meist
universitären Raum wurden in den späten siebziger Jahren in den
virtuellen hinein erweitert. Die ersten kollektiven Onlinespiele
schufen Verbindungen innerhalb der Subkultur jenseits physischer
Grenzen.
Das erste Onlinespiel entstand 1978 an der britischen
Universität Essex. Der Name MUD (für Multi-User-Dungeon) bezeichnet
heute eine ganzes Genre. Ein MUD lässt sich am einfachsten als
Textabenteuer mit mehreren Spielern beschreiben. Der Spieler bewegt
sich durch hohe Berge, tiefe Wälder und natürlich unterirdische
Verließe, die allein aus Worten gebaut sind. Der entscheidende
Unterschied ist, dass genau dies in jedem Spiel maximal 35 (im ersten
MUD) andere Spieler ebenfalls versuchen: Man kämpft, kooperiert und
plaudert eine Menge. Die einfache Spielstruktur ermöglicht ungeheure
soziale Komplexität. Dies ist vielleicht der Grund für den Erfolg von
MUD. Schon in den frühen achtziger Jahren musste die Universität Essex
den Zugang zu MUD wegen der sonst drohenden Überlastung des
Großrechners auf die Nachtstunden beschränken. Über das Packet Switch
System (PSS) war die Universität Essex mit anderen britischen
Hochschulen vernetzt. Das PSS war auch über das University College in
London mit dem amerikanischen ARPAnet verbunden. So hatten
amerikanische Studenten Zugang zum MUD. Die Zugriffszahlen sind zwar
nicht mehr vorhanden, MUD-Mitgründer Richard Bartle schätzt aber, dass
1985 ungefähr 50 bis 100 interne Spieler von der Universität Essex
regelmäßig das MUD besuchten und ebenso viele externe.
Populär wurde
das Spielkonzept dieser von vielen Menschen geteilten Spielwelten in
der zweiten Hälfte der neunziger Jahre durch Onlinerollenspiele. Mehr
als 20 solche existieren derzeit, die größten sind Schätzungen zufolge
„Lineage“ mit mehr als drei Millionen Abonnenten in Südkorea und
Taiwan, danach „Everquest“ mit mehr als 430000 Abonnenten und „Ultima
Online“ mit etwa 225000 zahlenden Kunden.
IV. Bedeutung
1) Spiel als kritische Praxis: Krieg und Siegen
Klassische
Kriegsspiele am Computer behaupten, dass ihre Gesetzmäßigkeiten mehr
als nur Spielregeln sind. Solange Spieler diese Behauptung nicht
hinterfragen, können strategische und taktische Simulationen durchaus
bedenkliche Weltbilder von Sicherheit als Nullsummenspiel und Krieg als
Lösung der meisten Probleme fördern. Doch natürlich steckt in solchen
Spielen auch kritisches Potential, da sie ja durchaus vermeintliche –
von Strategen auch als solche präsentierte - Gesetzmäßigkeiten des
Kriegs als Spielregeln enttarnen können. Doch diese Lesart propagieren
weder Hersteller noch eine Mehrheit der Spieler, denn gerade eine
solche Sicht würde den Spaß des Spiels als Ernstfall zerstören.
Eine
für Spiele innovative Perspektive auf Formen menschlichen
Zusammenlebens bieten neue Simulationen wie „Civilisation 3“, die ihre
Spieler zugleich eine neue Art des Denkens von Gesellschaft und all
ihrer Teilsysteme erfahren und dabei den Fehler aller Utopien des
vergangenen Jahrhunderts erkennen lassen: den Glauben an eine zentrale
Planbarkeit von Gesellschaft.
Zunächst scheinen Simulationen wie
„Civilization 3“ Allmachtsphantasien zu fördern, weil sie eine fast
totale Kontrolle der Spielwelt zu ermöglichen. Doch auf den zweiten
Blick wird deutlich, dass der Spielverlauf gleichermaßen von den
Handlungen der Spieler, ihren Interaktionen mit den computergesteuerten
Spielcharakteren, einer Vielzahl anderer Variablen und den
Gegebenheiten der Spielwelt resultiert. Keiner der Faktoren bestimmt
allein den Ablauf des Spiels. Ihn zentral zu planen, ist unmöglich. Auf
Grund dieser von unten nach oben verlaufenden Prozesse, die ohne
zentrale Steuerung eine Ordnung höhere Qualität hervorbringen, fördern
diese Spiele ein neues Weltbild.
Ein Weltbild, das zum Beispiel
Klaus Mainzer, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Komplexe
Systeme und Nichtlineare Dynamik, schon vor einigen Jahren in einem
Interview gefordert hat: „Wenn ich die Reaktion in der politischen
Öffentlichkeit sehe, dann geistert bei uns immer noch die Vorstellung
herum, dass der starke Mann oder die starke Frau endlich mal Ordnung
schaffen könnte. Aber das ist eine Illusion. Die gute Absicht
pervertiert im komplexen System. Gutes zu meinen und zu wollen, reicht
nicht aus. Die nichtlineare Dynamik mit ihren Effekten, die nicht
voraussehbar sind, ist eine Botschaft, die der Öffentlichkeit
vermittelt werden muss. Wir brauchen zwar Mut für die Entscheidung,
aber auch Sensibilität im Umgang mit solchen komplexen Systemen.“ (vgl.
Mainzer, 1997)
2) Technik, die entgeistert: Mensch-Maschine-Kommunikation
Von
Anfang an hingen die inhaltlichen Möglichkeiten der Computerspiele von
der Entwicklung der Computertechnik ab. Diese kurzen, bestenfalls
kontinuierlich aufeinander aufbauenden Aufmerksamkeitsspannen der
frühen Videospielautomaten waren Ausdruck dieser technologischen
Schranken, nicht aber Reflexion. Oder?
Ähnlich wie der digitale Film
immer auch von den Versprechen, Gefahren und Unzulänglichkeiten der
Grundlagen seiner Form erzählt, haben Computerspiele von Anfang an
ebenso die Computertechnik reflektiert. Die ersten Heimkonsolen
beschreiben und verkörpern durchaus das Demokratisierungsversprechen
der Computertechnik, ähnlich wie die Videospielautomaten die Anpassung
des Menschen an den Automaten analysierten. Denn immerhin musste man ja
in ihre Orte pilgern, anstatt dass sie in die Wohnzimmer kamen. Die
Tennisspiele auf den ersten Heimkonsolen kann man als erste graphische
Benutzeroberfläche sehen, lange bevor Apple über eine solche die
Heimcomputer verfügbar machte. Natürlich konnte man Heimkonsolen nicht
programmieren, natürlich war die Zugänglichkeit der Technik somit auch
eine Täuschung - doch wer programmierte denn später auf Heimcomputern?
Spiele haben den Menschen vielleicht mehr beigebracht als die
Schreibmaschinenfunktionalität und –form der späteren Büroanwendungen
oder die Schnittstellenmetapher des Schreibtischs. Die visuelle Form
der Spiele war unterschiedlich, aber doch eng begrenzt – und das war
eine wichtige Lehre: Schnittstellen beruhen auf Konvention und sind
nicht von Natur aus gegeben.
Das bisher vielleicht stärkste Bild der
neunziger Jahre für die Beziehung zwischen Mensch und Technologie im
Computerspiel war ein Moment ihres Versagens. Das Rollenspiel „Ultima
IX: Ascension“ macht seine Spielwelt spürbarer als jeder Vorgänger: Mit
einer leichten Drehung der Maus kann der Blick des Spielers in jede
Richtung schweifen. Doch es ist leicht, an das Ende dieser Welt zu
gelangen. Nach einigen geschickten Sprüngen über Klippen hinweg steht
man unvermittelt in einer unendlichen grauen Weite. Hier hören alle
Texturen auf, keine detaillierten graphischen Oberflächen liegen mehr
über den Dingen.
Ein wenig erinnert dieser Moment an Josef Rusnaks
Film „The Thirteenth Floor“, in dem Menschen einige Male an ein ähnlich
physisches Ende ihrer Welt gelangen und hilflos feststellen, dass sie
in einer Simulation gefangen sind. Es gibt einen wesentlichen
Unterschied zwischen diesem filmischen Nachfühlen einer Spielwelt und
ihrem tatsächlichen Erfahren in „Ultima IX: Ascension“. Im Film ist der
Mensch hilflos, ganz wie man sich für gewöhnlich die Gefangenen so
genannter virtueller Realitäten vorstellt. Doch im Spiel ist es die
Technologie, die uns hilflos gegenübersteht. Aus der Gräue an ihrem
Rand gibt es Wege, auf denen man unter die Oberfläche der Spielwelt
zurückkehren kann.
Die Erklärung ist einfach: Das Programm berechnet
einen dreidimensionalen Raum, nur haben die Programmierer nicht damit
gerechnet, dass jemand über den Weltrand springt und unterhalb einer
bestimmten Höhe zurückkehrt. Für das Erdinnere wurden dem Programm
keine Informationen gegeben, weil hier eigentlich niemand verkehren
soll. Die Technologie braucht den Menschen, um zwischen der Oberfläche
der Dinge und ihrer Unterseite zu unterscheiden.
Der Mensch,
beziehungsweise sein Spiel, ist der ultimative Input für die vom
Computer berechneten Prozesse. Mensch und Technologie sind im Spiel
zwei gleichberechtigte Parteien einer Wechselbeziehung. David
Cronenberg hat das in seinem Film „eXistenZ“ sehr konkret gezeigt.
Menschen technisieren ihre Körper mittels künstlicher Anschlüsse im
Rückenmark, um über diese Schnittstellen Computerspiele zu erleben,
während Spielcomputer vermenschlicht aus künstlichem Fleisch gefertigt
werden. Dass Technologie und wie Technologie vom Menschen abhängt, ist
die beruhigende und spannende Botschaft des Computerspiels.
Dass der
Mensch zuweilen nur als gleichberechtigte Variable im Spiel auftaucht,
ist eine bedenkenswerte. Wir sind nicht in den Grenzen eines Computers
gefangen wie die Helden von „The Thirteenth Floor“. Wir sind mit ihm
vielmehr noch enger verbunden, als die Spieler in „eXistenZ“ über ihre
künstlichen Nabelschnüre.
3) Aufbruch in den Bildraum: Der Ort imaginärer Unterhaltungsumwelten
Die
enge Beziehung von Mensch und Maschine in ihrer zum Spiel geronnen
Kommunikation wird besonders deutlich im Bestreben der von Tolkien
inspirierten Rollenspiele, virtuelle Realität als neuen perfekten Raum
zu schaffen. Diese Idee war in den 1990er Jahren in Spielen ebenso
wirkungsmächtig wie in der Wirtschaft.
Ein neuer Raum wurde
entdeckt, der sich vom heimischen Computer über Telefonleitungen in die
Welt hinein erstreckte. „Im Cyberspace haben wir einen ‚Ort’ jenseits
des Hyperraums gefunden“, beschreibt die Margaret Wertheim (Wertheim,
2000, S. 249) rückblickend die Ideen jener Zeit, deren Kontinuität sie
so analysiert: „Im Himmel, so wird uns verheißen, werden die ‚Sünden
des Fleisches’ ausgelöscht und Menschen wie Engel sein. Unter den
Verfechtern des Cyberspace finden wir auch oft eine Sehnsucht nach
Transzendenz der Beschränkungen des Leibes.“ (Wertheim, 2000, S. 285).
Dieses
Denken ist mit den 1990er Jahren zu Ende gegangen ist. Heute spricht
kaum ein Visionär noch von Räumen, die parallel oder gar jenseits der
physischen Welt existieren sollen. Wie Lev Manovich schreibt: „The
1990s were about the virtual. We were fascinated by new virtual spaces
made possible by computer technologies. (…) It is quite possible that
this decade of the 2000s will turn out to be about the physical – that
is, physical space filled with electronic and visual information.”
(vgl. Manovich, 2002).
Die Industrie betreibt längst diese
Verwandlung unserer Lebensumwelt in einen Datenraum: Neue Informationen
werden zum Beispiel über Gesichtserkennungsprogramme oder
Verkehrsleitsysteme aus bestehenden Räumen gezogen, ohne dass die sich
in ihm bewegenden Menschen es bemerken. Diese Ideen werden heute unter
Schlagworten wie „evernet“, „location based gaming“ oder „augemented
reality“ verhandelt und bereits als Videoüberwachung oder „global
positioning system“ praktiziert. Das beginnt schon bei Informationen zu
Restaurants in der näheren Umgebung, die man sich aufs Mobiltelefon
schicken lassen kann – die Daten werden hier auf wenige hundert Meter
genau segmentiert, der physische Raum auf niedrigem Niveau mit
Informationen angereichert.
Die Anwendungen verwischen das
Kategoriesystem von innen und außen, virtuell und real in
beängstigender Weise. Das Unternehmen Silicon Graphics – im vergangenen
Jahrhundert vor allem wegen seiner VR-Maschinen bekannt – bietet unter
dem Namen „visual area networking“ eine Technologie an, die Folgendes
leistet: Ein Soldat betrachtet auf einem tragbaren Computer ein hoch
aufgelöstes, photorealistisches, dreidimensionales Bild der feindlichen
Truppen, die wenige Meter entfernt jenseits eines Hügelkammes lagern.
Die Daten für die Bilder hat eine Drohne gesammelt, errechnet wurden
sie weit entfernt von einem Onyx-Hochleistungsrechner irgendwo im
Hinterland, übermittelt hat sie ein Satellit.
Bereits jetzt
existieren Spiele, die diese neue Kolonialisierung des Raums zur
„augemented reality“ thematisieren. Einen Vorgeschmack gab 2001 das
Spiel „Majestic“. Das Ziel der Spieler ist die Aufdeckung einer großen
Verschwörung. Seit Jahrzehnten werden in Konspirationstheorien mit dem
Begriff Majestic geheime Weltregierungen, Nachrichtendienste oder
UFO-Projekte bezeichnet. Ähnlich wie in der Fernsehserie Akte X spaltet
„Majestic“ den Topos der allumfassenden Verschwörung in zahlreiche
episodische Fragmente auf. Über Telefon, E-Mail und Fax kontaktiert das
Spiel seine Spieler, man hebt ab und hört vielleicht eine Frau in
Todesangst um Hilfe flehen. Dies kann ebenso wie die fingierten
Internetseiten mit Informationen zu dem Spiel - zum Beispiel die der
Malta UFO Research - als Eindringen des Spiels in die Wirklichkeit
gewertet werden. Aber umgekehrt machen erst die zahlreichen privaten
Seiten im Netz, auf denen Spieler ihre Erfahrungen und Erkenntnisse
austauschen, das Spiel erst zu einem Spiel.
Noch klarer wird die
Transformation des Raums zur „augemented reality“ beim so genannten
„pervasive gaming“ oder auch „location based gaming“. Der Portagonist
diese Genres, das Unternehmen „It's Alive!“, beschreibt seine Produkte
so: „Pervasive gaming means games that surround you, 24 hours a day,
everywhere. When you walk down the street, you're walking through an
adventure world draped on top of the real world, and people you meet
may be characters in the same game you're playing. Enemy or friend,
virtual lover, or an evil warlock...? Every location may have a
significance in the game - the main square is a virtual swamp, the
central station is headquarters for secret agents - and your phone will
warn you when you enter.” (vgl. It’s Alive)
Das erste Spiel dieser
Art ist „BotFighters”. Über ihre Mobiltelefone lokalisiert das Spiel
seine Spieler, die sich gegenseitig beschießen. Auf der zum Spiel
gehörenden Internetseite können Spieler ihre Roboter aufrüsten,
Highscores betrachten, in Echtzeit die Aufenthaltsorte anderer Spieler
abfragen und natürlich Aufträge entgegennehmen, andere Roboter zu
finden und zu zerstören. Ist ein solcher Auftrag akzeptiert, wird das
Mobiltelefon zum Radar und zugleich zur Waffe: Per SMS kann man die
Standorte des Ziels abfragen und gegebenenfalls feuern.
Nachdem sich
gezeigt hat, dass der Traum einer nicht-physischen Parallelwelt nicht
ohne den Bezug zur physischen Welt geträumt werden kann, machen sich
IT-Unternehmen an die Transformation ebendieser. Und Computerspiele
lassen uns diese Ideen in ihrer populärsten Ausprägung erleben und die
beängstigende Erfahrung machen, ein Stück Information in der augemented
reality zu werden.
4) Identitätswirtschaft: Spiel mit sozialen Rollen
Technologie
verändert nicht nur die Orte und Räume, in denen Menschen leben oder
die Struktur der Abhängigkeiten in der Mensch-Maschine-Kommunikation.
Auch die zwischenmenschliche Interaktion steht natürlich unter ihrem
Einfluss.
Das zentrale Element des ersten Onlinerollenspiels, MUD1,
war das Jonglieren mit sozialen Rollen und nicht die Suche nach
Schätzen. Männer konnten Frauen spielen, und Frauen Männer, Draufgänger
konnten Intellektuelle sein, Mauerblümchen zu Helden werden. Spieler
waren oft mit mehreren, grundverschiedenen Avataren zugleich im MUD1
anwesend.
Dasselbe ist in heutigen Onlinerollenspielen möglich.
Diese Spielwelten ermöglichen es, weit bewusster als im Alltag Rollen
zu spielen und mit Rollen zu spielen. Ansonsten aber ist die
Spielwirklichkeit ebenso zu definieren wie jede andere: Als das
Ergebnis symbolisch vermittelter sozialer Interaktion.
V. Fazit
Die
heutigen Computerspiele stehen nicht nur in bestimmten
Traditionslinien, sie reflektieren diese Herkunft auch. Und nicht nur
das- sie erzählen uns auch etwas über das Leben in neuen Umwelten.
Spiele thematisieren dabei nicht allein die subtilen Schranken von
Hard- und Software als Trägermedien, sondern demonstrieren auch neue,
nur in diesem technischen Umfeld mögliche Formen kultureller
Produktion: Gerade Simulationen, die den Spieler Teil eines emergenten
Prozesses sein, oder besser werden lassen, beweisen die Eigenart und
Stärke computervermittelter Inhalte.
Künstler haben das längst
erkannt, deshalb bedienen sich Werke wie Tony Wards „Alien Invasion“
oder Jodis „Untitled Game“ am Formenrepertoire und gar der Technik des
Computerspiels. Spieler wiederum haben längst die ihren Games
eingeschriebenen Gesetze erkannt und angefangen, neue zu formulieren.
Sie benutzen Spiele für von den Designern gänzlich unerwartete Zwecke,
zum Beispiel zur Produktion so genannter Machinima-Filme mit der
Technik kommerzieller 3-D-Actionspiele.
Dass solche Praktiken
enormes Aufsehen erregen, lässt jedoch auch Rückschlüsse auf eine
andere Tatsache zu: Das Problem sind – bei allem durchaus
beklagenswerten Mangel an fundamentaler inhaltlicher Innovation - nicht
die Spiele, sondern die fehlende Vielfalt der Lesarten. Dass ein
Spieler im Spiel immer auch die Partitur des Designers inszeniert, dass
man diesen Prozess etwa durch die eigene Produktion von Bildern in
Machinima-Filmen forcieren und transzendieren kann – das scheint nicht
unbedingt ein Thema der Spielkritik zu sein, ebensowenig wie ihre
Erzählungen von Technologie, Macht und dem Zusammenleben in einer
Gesellschaft.
Dieses weitgehende Schweigen der Spielkritik hat
vielleicht denselben Grund wie der umso lauter geäußerte Unmut über die
neue luddische Kultur mancher Kulturpessimisten: Beide fürchten die
Verschränkung von Spiel und unserer Welt. Je mehr Themen wie
Herrschaftsstrukturen, die Transformation unserer Umwelt unter dem
Paradigma der augemented reality oder soziale Prozesse in virtuellen
Gemeinschaften in das Spiel hineinragen, desto schwerer wird die reine,
lustvolle Hingabe an seine und unter seinen Gesetzen. Und umgekehrt: Je
mehr Regeln des Spiels auf unsere Welt übergreifen, desto weniger
entspannt kann man der Zukunft entgegenblicken. Das hat schon Borges in
seiner Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ beschrieben. Nachdem die
erfundene Welt als streng abgeschiedener Ort entdeckt wurde, beginnt
sie, in die wirkliche einzudringen. Ein Kompass mit Buchstaben eines
der Alphabete Tlöns taucht ebenso auf wie ein kleiner Kegel, der so
schwer ist, dass er nicht aus irdischem Material bestehen kann.
Das
Fazit des Erzählers: „Eine verstreute Dynastie von Einsiedlern hat das
Antlitz der Erde verwandelt. Ihre Aufgabe geht weiter. Wenn unsere
Prognosen nicht irren, wird in hundert Jahren jemand die hundert Bände
der Zweiten Enzyklopädie von Tlön entdecken Englisch, Französisch und
das bloße Spanisch werden dann vom Planeten verschwinden. Die Welt wird
Tlön sein.“ (Borges, 2001, S. 34)
Die Angst vor etwas Ähnlichem
scheint die Gegner des Computerspiels anzutreiben. Doch Spiele müssen
nicht das Antlitz der Erde verwandeln. Sie können es auch einfach
beschreiben und in kleinen, wohldosierten und beschränkten Einheiten
erfahr- und manipulierbar machen. Das ist kein Widerspruch zur
Eigengesetzlichkeit als Wesensmerkmal des Spiels, denn die Regeln in
Simulationsspielen sind immer nur eine Auswahl jener der Wirklichkeit.
Man kann sich in „Civilization 3“ also Skepsis gegenüber zentralen
Herrschaftsstrukturen in der Wirklichkeit erspielen, jedoch nicht eine
konkrete Utopie, die außerhalb des Spiels uneingeschränkte Gültigkeit
hätte. The Third Place ist eben nicht der Orbis Tertius – und das ist
sein Vorzug.
VI. Literatur
1) Monographien
Berger, Arthur Asa: Video Games.- New Brunswick, London, 2002
Borges, Jorge Luis: Fiktionen. – Frankfurt am Main, 2001, 7. Auflage
Huizinga, Johan: Homo Ludens – Reinbek bei Hamburg, 1997
Wertheim, Margaret: Die Himmelstür zum Cyberspace – Zürich, 200, 1. Auflage
2) Aufsätze
Fuller,
Mary; Jenkins, Henry: Nintendo and New World Narrative. – in: Jones;
Steve: Cybersociety: Computer-Mediated Communication and Community. –
Thousand Oaks, 1994. S. 57-72.
3) Berichte aus Tageszeitungen und Wochenzeitungen
Patterson,
Joseph Medill: The Poor Man's Elementary Course in the Drama. In: The
Saturday Evening Post, 23.11.1907, S. 10, 11, 38. Verfügbar:
http://www.cinemaweb.com/silentfilm/bookshelf/17_sep_2.htm (abgerufen
31.7.2002)
Rothstein, Edward: Reading and Writing: Participatory
Novels. - in: The New York Times Book Review, 8.5.1983. Verfügbar:
http://www.csd.uwo.ca/Infocom/Articles/nyt83.html (abgerufen 31.7.2002)
4) Internetdokumente
Crawford,
Chris: (1997) The Art of Computer Game Design. [Online] Verfügbar:
http://www.mindsim.com/MindSim/Corporate/artCGD.pdf (abgerufen
10.8.2002)
It’s Alive!: BotFighters. [Online]. Verfügbar: http://www.itsalive.com/games/gamedetails.asp?Message=83 (abgerufen am 7.8.2002)
Mainzer,
Klaus: (02.08.1997) Komplexe Systeme, intelligente Computer und
Selbstorganisation. [Online]. Verfügbar:
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/bio/2161/2.html (abgerufen:
10.8.2002)
Manovich, Lev: (Februar 2002) The Poetics of Augemented
Space [Online]. Verfügbar:
http://www.manovich.net/DOCS/augmented_space.doc (abgerufen 7.8.2002)
Pias,
Claus: (21.10.2000) Computer Spiel Welten [Online]. Verfügbar:
ftp://ftp.uni-weimar.de/pub/publications/diss/Pias/ (abgerufen am
7.8.2002)
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